„Mama, es ist etwas ganz Schlimmes passiert!“ – mit Tränen in den Augen steht meine Tochter vor mir. „Was denn?“ – „Ich habe aus Versehen Tee verschüttet.“
Getränke zu verschütten ist in unserer Familie kein Staatsverbrechen (solange man es nicht absichtlich tut). Wir haben unsere Kinder auch noch nie dafür geschimpft, weshalb mich ihre Reaktion etwas irritiert. Also reagiere ich entsprechend gelassen: „Das ist doch nicht schlimm. Das machen wir gleich wieder sauber.“ – und gehe in die Küche.
„Aber warum findest du es denn nicht schlimm, Mama?“ – Häää, was hat sie denn heute? Ich erkläre: „Weil du mir die Wahrheit gesagt hast. Du bist nicht einfach weggegangen und hast die Sauerei hinterlassen, sondern hast mich darüber informiert. Tee zu verschütten ist nur ein bisschen schlimm, aber die Unwahrheit zu sagen oder so zu tun, als hätte man das nicht gemacht, das ist richtig schlimm! Papa und ich finden es sehr wichtig, dass wir uns gegenseitig vertrauen können in der Familie. Dazu müssen wir die Wahrheit sagen. Und das hast du doch gemacht! Das finde ich sogar richtig gut!“
Für mich hat sich das Gespräch erledigt. Ich wische weiter die Tee-Pfütze auf.
Im Hintergrund höre ich, wie meine Tochter weiter schluchzt und schluchzt. „Komisch“, denke ich. Ich gehe zu ihr und frage nach, warum sie denn noch immer weint. Es bricht auf ihr heraus: „Mama, kannst du mir vergeben, dass ich Tee verschüttet habe?“ – „Aber natürlich! Es ist doch gar nicht schlimm!“ – Sie weint weiter. Ich merke, ich bin noch nicht zum Kern vorgedrungen. „Aber ….. hast du mich auch lieb?“ – „Natürlich habe ich dich lieb!“ (So viel Aufregung wegen einer solchen Lappalie?)
„Aber wenn ich dich nicht um Entschuldigung gebeten hätte, dann hättest du mich nicht mehr lieb!“ – „Doch, natürlich!“ (Was habe ich denn falsch gemacht, dass sie so von mir denkt???) – „Aber du würdest mir dann nicht vergeben!“ – Langsam begreife ich…. „Ariella, ich habe es dir doch schon längst vergeben; schon bevor du mich überhaupt darum gebeten hast!“, platzt es aus mir heraus. „Aber warum, Mama?“ – „Ganz einfach: Weil du meine Tochter bist! Du kannst nichts machen, was ich dir nicht schon vergeben hätte!“ – Was habe ich da gerade gesagt? Ich denke nochmal darüber nach, stelle mir die schlimmsten Szenarien vor – und komme zu der Schlussfolgerung: Es ist wirklich wahr!
Meine Tochter kann nichts tun, was ich ihr nicht schon vergeben habe!
Ich spüre, ich bin nicht mal darauf angewiesen, dass sie nach jedem Fehler kommt und sich entschuldigt.
Das einzige, was ich mir als Mutter wünsche, ist, DASS sie kommt!
Meine Vergebung steht fest und hängt nicht davon ab, ob sie „Entschuldigung, Mama“ sagt. Meine Mama-Krone rutscht nicht vom Kopf, wenn mein Kind sich mal daneben benimmt genauso wenig wie ein „Entschuldigung, Mama“ meine Krone wieder gerade richtet.
Aber ist das, was ich ihr hier erkläre, „theologisch korrekt“???
Ich denke in den nächsten Tagen immer wieder darüber nach. Wenn meine Vergebung als menschlich begrenzte Mutter nicht davon abhängt, ob mein Kind mich explizit darum bittet oder nicht, wie ist es denn dann bei Gott?
Als Kinder haben wir damals das furchtbare Lied gelernt „Pass auf, kleine Hand, was du tust …. (kleiner Mund, was du sprichst usw.), …. denn der Vater im Himmel schaut herab auf dich, drum pass auf!“ – Dieses Gottesbild habe ich schon lange nicht mehr. Was für ein Gott wird hier besungen? Einer, der mit der Peitsche und bösem Blick auf uns herabschaut und zuschlägt oder zumindest sich von uns abwendet bis wir wieder zerknirscht um Vergebung bitten? – Ich glaube nicht, dass meine „Vergehen“ den Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat, vom Thron stoßen.
Aber bin ich dann bei der Allversöhnungslehre? Heißt es im Umkehrschluss, dass Reue und Vergebung nicht mehr notwendig sind, weil der liebende Gott ohnehin alles schon vergibt?
Schließlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Warum muss ich meiner Tochter im Grunde nichts vergeben? Warum darf sie sich meiner uneingeschränkten Vergebung sicher sein?
Die Antwort lautet: WEIL SIE MEIN KIND IST!
So gibt es nun keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind. (Römer 8,1)
Aber allen, die ihn aufnahmen und ihm Glauben schenkten, verlieh er das Recht, Kinder Gottes zu werden. (Johannes 1,12)
Das heißt: DIE IDENTITÄT MACHT DEN UNTERSCHIED!
Ist das nicht krass? Gott schaut mich an und sagt: Ich habe dir schon alles vergeben! Alles ist bezahlt – dort am Kreuz vor 2000 Jahren! Du bist mein Kind! Meine Vergebung für dich ist uneingeschränkt! Du lebst aus einer uneingeschränkten Vergebung!
Liebe Tochter Gottes, ist es dir bewusst? Du kannst nichts anstellen, was dein Vater im Himmel dir nicht schon vergeben hat! Seine Vergebung für dich ist hundertprozentig, uneingeschränkt und vollkommen!
Wie oft leben wir doch so, dass wir denken, Gottes Liebe würde von meiner „Entschuldigung“ abhängen. Oder wir denken, wir sind gerade „weit weg“ von Gott.
Mich als Mutter hat es ehrlich traurig gemacht, dass meine Tochter so „böse“ von mir denkt. Wie denke ich von Gott, meinem Vater im Himmel? Was glaube ich über ihn?
ER IST DA. Nur ein Gebet weit entfernt. ER LIEBT DICH. Immer!
rausausderaffenfalle meint
Danke, Luisa – wie wahr das ist, was du schreibst. Und so schön durch die Begebenheit verdeutlicht <3
luisaseider meint
Danke!
Elke Etzel meint
Liebe Luisa , So schön und eindrücklich deine Geschichte. Gedanken, die wir uns manchmal nicht trauen anzusprechen und zu fragen. Diese Gedanken ermutigen mich sehr. Doch mich interessiert es irgendwie sehr; warum und wie Aurellia dieses annehmen der Vergebung annehmen konnte , und wie / ob sie es annehmen konnte?.
luisaseider meint
Liebe Elke,
mir erschien es so, dass es da in ihrem Kopf ganz schön ratterte. Sie hatte gleichzeitig ein Aha-Erlebnis und irgendwie erschien es ihr auch zu einfach, zu natürlich („Einfach nur, weil ich deine Tochter bin?“). Jedenfalls hat sie aufgehört zu weinen.
(und: meine Tochter heißt „Ariella“ 😉 )
lg
luisaseider meint
Wobei ich noch eine Sache betonen möchte: „In Christus sein“ (vgl Römer 8,1) bedeutet, dass ich geborgen sein darf in dem Wissen um die völlige Vergebung, es bedeutet aber NICHT, dass ich inflationär mit falschem Verhalten umgehen darf (Gott vergibt mir ja sowieso…..). Meine Reaktion wäre ganz sicherlich anders ausgefallen, hätte meine Tochter den Tee böswillig und absichtlich verschüttet, oder wenn sie sich heimlich davongeschlichen hätte und ihre Tat geleugnet oder schön geredet hätte ….