Ich greife in die Schublade, um die Teller für unseren Frühstückstisch herauszuholen. Meine Hände wissen genau, wie viele es sein müssen. Doch etwas stimmt nicht. Einer fehlt. Ich zähle nach. Fünf. Stimmt. Einer zu wenig.
Obwohl er nie mit uns am Tisch saß. Obwohl schon mehr als vier Jahre vergangen sind. Obwohl wir unser Leben zu fünft genießen. Wir wissen immer – bewusst oder unbewusst – einer fehlt.
Unser Samuel.
Heute vor fünf Jahren war er noch in meinem Bauch. Ben und Hannah, die großen Geschwister, kuschelten gern mit meiner Kugel und waren voller Vorfreude auf unser Baby. Ich jammerte über meine Wehwehchen und mein Mann, Alex, hatte seine letzten Prüfungen seines zweiten Staatsexamens vor sich. Alltagssorgen, die jetzt so klein und unbedeutend scheinen.
Meinem Baby ging es gut, hatte mir meine Frauenärztin immer wieder versichert. Doch auf einmal ging alles ganz schnell.
31. SSW – Diagnose Herzfehler und Gehirnagenesie, Empfehlung zu einer Fruchtwasseruntersuchung, die wir abgelehnt haben
33. SSW – Samuel nimmt kaum zu, er würde früher kommen müssen
34. SSW – Kaiserschnitt aufgrund schwacher Herztöne
Plötzlich war es da, unser kleines großes Wunder. Und die Zeit blieb stehen. 54 Tage lang lebten wir zwischen Dankbarkeit dafür, dass unser Söhnchen am Leben war, und dem Bangen darum, wie lange dieses dauern würde. Denn zehn Tage nach seiner Geburt haben wir erfahren, dass unser Samuel Trisomie 18 hatte. Schließlich ist unser Kleiner Vogel davongeflogen.
Trauer geht nicht vorbei
Trauer ist nichts, was irgendwann vorbeigeht oder das man überwinden kann, wenn man bestimmte Schritte befolgt. Die Trauer um unser Kind wird uns unser Leben lang begleiten. Die Frage ist nur, wie wir mit ihr umgehen.
Im ersten Jahr schien sie uns zu erdrücken. Ich wollte, dass diese dunkel Wolke um mich herum verschwindet. Doch dann verstand ich, dass ich nie wieder so leben würde, wie vor Samuel. Ich war eine andere geworden und auch unser Leben hatte sich verändert. Es ging nicht darum, diese Gefühle hinter uns zu lassen, sondern zu lernen, mit ihnen zu leben.
Vorfreude auf den Himmel
Inzwischen haben wir noch ein Kind bekommen, unsere Emma Salomé. Wir fünf tragen den Himmel in unseren Herzen. Er ist häufig Thema bei uns. Und auch wenn unsere Kleinste vor einigen Monaten noch fast zu weinen begann bei dem Gedanken, nicht mehr nach Hause gehen zu können, wenn wir erst im Himmel sind, freut sie sich auf das, was vor uns liegt – so weit sie es mit ihren drei Jahren verstehen kann. Ben wird endlich mit seinem Bruder Fußball spielen können, Hannah möchte ihn einfach umarmen, Emmi wird wahrscheinlich Verstecken mit ihm spielen wollen, Alex wird endlich mit seinen beiden Söhnen Abenteuer erleben und ich… Ich werde ihn ansehen.
Das Leben feiern
Die Hoffnung auf den Himmel prägt unsere Trauer. Doch sie beschränkt sich nicht auf das Irgendwann, sondern ist auch im Jetzt. Wir sind dankbar. Wir haben uns entschieden, dankbar zu sein. Dafür, dass er bei uns war. Dass wir ihn sehen, halten und küssen durften. Deshalb feiern wir sein Leben. Am 9. Juni werden wir einen Kuchen für ihn backen und fünf Kerzen anzünden, die seine Geschwister gemeinsam für ihn auspusten. Wir werden uns neben sein Grab setzen und ein Picknick machen, so wie jedes Jahr. Wir werden uns freuen, ihn vermissen, wahrscheinlich auch weinen. Aber wir feiern.
Sein Todestag allerdings ist ein dunkler Tag für uns. Die Wolke, die Kopfschmerzen – alles kehrt zurück. Aber auch dafür ist Raum. Wir nehmen uns diese Zeit. Als Familie, als Eltern und allein.
Er hat seinen Platz in unserer Familie
Samuel bleibt ein Teil unserer Familie. Er ist unser drittes Kind. Wenn wir Weihnachten feiern, schneiden wir einen Ast aus unserem Baum und legen ihn auf sein Grab. Wenn wir einen kleinen Vogel sehen, dann denken wir an ihn. Wenn wir von unserer Familie sprechen, dann zählen die Kinder immer uns sechs auf. Sie erzählen ihren Freunden von ihm. Nicht mit Traurigkeit, sondern selbstverständlich. Hin und wieder werden aber auch sie traurig, weil sie Samuel vermissen. Und dann reden wir darüber, was wir gern mit ihm zusammen tun würden. Oder wir stellen uns vor, wie er jetzt wohl aussieht.
Er fehlt mir. Uns allen. Jeden Tag. Diese Lücke wird sich niemals schließen und ich wünsche es mir auch nicht. Meine Sehnsucht nach meinem kleinen Sohn ist Ausdruck meiner Liebe zu ihm. Und die wird nie enden.
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Jedes Kind hat seinen Platz. Egal, wie kurz sein Leben war. Es hinterlässt Spuren, ob es uns bewusst ist oder nicht.
Und auch wenn dein Kind es nicht auf die Welt geschafft hat, gib ihm einen Namen.
Nimm dir Raum und Zeit für deine Trauer.
Finde Wege, sie zu leben statt zu verdrängen.
Es tut mir immer wieder weh zu lesen, wenn Kinder in der Familie fehlen. In diesem Fall besonders, weil auch wir Eltern eines Trisomie 18 Kindes sind und voller Dankbarkeit nun schon 10 Jahre mit unserer Tochter zusammen ihren Weg hier im Alltag gehen dürfen mit allen Höhen und Tiefen. Aber uns steht der Abschied hier auf der Erdenzeit noch bevor – eine ungewisse Zeit, die wir soweit es geht genießen möchten.
Es ist schön, dass Samuel für immer den Platz in eurer Familie hat und die Lücke wird sich nie füllen lassen.
Alles Gute für euch als Familie weiterhin.
Liebe Grüße Daniela Thöne
Liebe Daniela, vielen Dank für deine Worte! Es freut mich so sehr, dass ihr eure Tochter schon so lange – für T18 – bei euch haben könnt. Das ist ganz sicher sehr schwierig, aber dass bei euch die Dankbarkeit überwiegt ist wunderschön! Ich wünsche euch noch ganz viele intensive Momente, in denen ihr unvergessliche Erinnerungen sammeln könnt, die euch nach dem Abschied tragen werden.
Alles Liebe, Regina
Vielen Dank für diesen Text, liebe Regina. Er berührt wirklich sehr. Den Schmerz eurer Familie kann man nur erahnen, aber die Art, wie ihr damit umgeht, bewundere ich sehr und sie macht bestimmt vielen in ähnlicher Lage sehr viel Mut. Wir haben zwei Sternenkinder, die wir in unserem Herzen tragen, die mir immer fehlen, obwohl sie nie wirklich da waren. Wir haben mit unseren anderen Kindern nie darüber gesprochen und heute denke ich, dass dies ein großer Fehler war, aus dem Bedürfnis heraus, sie zu schützen. Danke, für deinen Mut und deine Ehrlichkeit
Es ist aber auch wirklich nicht leicht zu entscheiden, was das Beste für die Kinder ist. Man möchte sie ja einfach beschützen. Wir hatten ja gar keine andere Wahl, als mit den Kindern darüber zu sprechen. Wenn sie gar nichts von einem Geschwisterchen wussten, ist das anders. Wenn sie noch klein sind, können sie das noch gar nicht verstehen. Ich glaube, dass es wichtig für sie ist zu wissen, wie viele Geschwister sie haben. Die „Sternengeschwister“ gehören auch zu ihrer Lebensgeschichte. Und darüber zu sprechen, ist nie zu spät. Ich wünsche euch da ganz viel Weisheit! In den nächsten Tage veröffentliche ich auf meiner Seite etwas zum Thema „Trauernde Kinder“. Vielleicht findest du ja ein paar Anregungen darin.
Mit Tränen in den Augen lese ich deinen Text, während ich unser drittes, 1-Woche-altes Baby stille. Ich kann deinen Schmerz nur erahnen, und doch leuchtet die Hoffnung in deinen Worten so hell.
Danke, Luisa. Das freut mich sehr. Genieß diese besondere Zeit mit deinem Baby, es ist ein unbeschreibliches Gefühl! Ich wünsche dir und deine Familie ganz viel Segen <3
Danke für deinen Text. Auch wir wären eigentlich zu sechst, denn unsere Tochter ist in der Schwangerschaftsmitte von uns gegangen. In unseren Herzen hat sie ihren festen Platz, ihre Kerze steht immer sichtbar im Haus, ihr Erinnerungsbaum mitten im Garten und doch habe ich häufig das Gefühl mit den großen Geschwistern zu wenig über sie zu sprechen. Manchmal reden wir über sie, aber eher wenig und ich Frage mich wie sehr die Kinder sie vermissen (können). Ich bin gespannt, was du zu trauernden Kindern schreibst, bisher habe ich wenig Literatur zu trauernden Geschwistern gefunden und fühle mich damit etwas alleine. Danke, dass du das Thema Trauer immer wieder ansprichst, darüber schreibst und Mut machst! Katharina
Liebe Katharina, ich vermute, dass ihre Trauer und das Vermissen der Schwester weniger stark ist, wenn sie sie nie gesehen haben, weil es – je nach Alter – zu abstrakt für sie ist. Deshalb braucht ihr euch da keine Vorwürfe machen. ich glaube das Wichtigste ist, dass die Kinder wissen, dass sie mit euch reden können, wenn ihnen danach ist. Ich habe nicht viel über dieses Thema gelesen, weil es mich in der Anfangszeit überfordert hat. Später habe ich das Buch „Um Kinder trauern“ von Anja Wiese entdeckt, in dem sowohl Eltern als auch Geschwister zu Wort kommen. Was ich gelernt habt ist, dass die Kinder einfach wissen müssen, dass Raum für ihre Fragen und Gefühle da ist, aber keine Erwartungen an sie gestellt werden.
So ein Herzensthema sucht man sich nicht aus, aber ja, mir ist es ganz wichtig, dass mehr Offenheit und Raum für das Thema Trauer herrscht. Danke für deine Ermutigung.
Alles Liebe, Regina
Mich hat der Text sehr angesprochen. Leider mussten wir unser Sternenkind Raphaela schon während der Schwangerschaft verabschieden. Sie ist im Mutterleib verstorben. Mein Mann wollte nie so richtig mit mir darüber reden . Auch will er nicht dass ich mit den Kindern darüber rede. Somit habe ich lange gebraucht um das ganze alleine zu verarbeiten. Ich denke sehr oft an unser Himmelskind.