Herbert (alle Namen in diesem Absatz sind geändert) war und ist Teil meiner weitläufigeren Verwandtschaft. Es ist schon viele Jahre her, dass ich ihn zuletzt getroffen habe, aber wenn ich an ihn denke, beschleicht mich sofort ein unangenehmes Gefühl.
Und zwar deshalb:
Herbert hatte einen ausgeprägten Blick für die Schwachstellen seiner Mitmenschen. Und aus Gründen, die sich mir bis heute nicht erschlossen haben, fand er es lustig oder cool, genau diese Schwachstellen in peinlichen Momenten anzusprechen.
Es konnte passieren, dass die Verwandtschaft bei fröhlich-unverbindlichem Small Talk und Sahnetorte beisammensaß. Alle plauderten nett und niemand ahnte etwas Böses (obwohl, mit der Zeit dann irgendwann schon…), bis Herbert in einen kurzen Moment der Stille hineinplatzte und so etwas sagte wie: „Sag mal Susanne, warum ist denn Franzi so dick geworden? Da musst Du doch als Mutter ein bisschen drauf achten!“ Oder: „Joachim, fahrt Ihr denn schon wieder ins gleiche Ferienhaus? Könnt Ihr Euch nicht mal einen anständigen Urlaub leisten?“.
Für einen kurzen Moment hielten alle Anwesenden den Atem an. Bis irgendjemand, meistens mein Onkel, die Sprache wiederfand und versuchte, mit einem witzigen Spruch oder einem abrupten Themenwechsel die Situation zu entschärfen.
Warum schreibe ich das hier? Naja, ist wahrscheinlich offensichtlich:
Herbert hatte sehr wohl einen Sinn für Taktgefühl. Aber er entschied sich mit voller Absicht, genau dieses Gefühl und damit natürlich die anderen Familienmitglieder zu verletzen.
Ein ganz anderes Erlebnis hatte ich vor einigen Monaten mit mir völlig unbekannten Menschen:
Ich stehe morgens an einer Fußgängerampel in der Lübecker Innenstadt. Flüchtig nehme ich wahr, dass außer mir noch ein Pärchen mittleren Alters am Straßenrand steht und wartet. Die Ampel springt auf Grün und die beiden überqueren neben mir die Straße. Da fällt es mir auf:
Die Frau hat Mühe, sich gerade auf den Beinen zu halten, schwankt, hält zwischendurch inne und macht dann wieder einige unsichere Schritte. Alles an ihrer Gangart deutet darauf hin, dass sie morgens um neun Uhr (schon wieder oder immer noch?) angetrunken ist. Jetzt merke ich auch, dass sie zwar nicht verwahrlost, aber doch irgendwie ungepflegt und unordentlich aussieht.
Was ich als nächstes beobachte:
Der Mann, der sie begleitet, nimmt ihren Arm und stützt sie beim Gehen. Er beugt sich ein Stück zu ihr herunter und redet mit sanfter Stimme auf sie ein. Was er sagt, weiß ich natürlich nicht, aber alles an ihm strahlt Freundlichkeit, ja sogar Zärtlichkeit aus.
Auf der anderen Straßenseite angekommen sehe ich noch, wie die Frau anfängt, hektisch in ihrer Handtasche zu wühlen. Sie wirkt panisch und wendet sich an ihren Begleiter. Der bleibt geduldig neben ihr stehen und hilft schließlich bei der Suche mit.
Ich weiß natürlich nicht, in welchem Verhältnis diese beiden Menschen zueinanderstehen. Freundschaft, Schicksalsgemeinschaft, Liebespaar- keine Ahnung, was sie verbindet.
Aber die Art und Weise, wie dieser Mann sich kümmert, rührt mein Herz an.
Er hätte einen Grund, sich von dieser Frau zu distanzieren, die da in aller Öffentlichkeit angetrunken vor sich hin stolpert. Er könnte sich sowas denken wie: „Das muss ich mir nicht antun“. Und sie dann stehen – und damit auch buchstäblich fallenlassen.
Doch nichts davon tut dieser Mann. Stattdessen tut er etwas sehr Schönes:
In einem Augenblick nackter Hilflosigkeit hüllt er diese Frau in ein Kleid aus Würde.
Er wendet sich nicht ab und lässt sie in ihrer Schwachheit nicht allein, den abschätzigen Blicken anderer Menschen ausgeliefert.
Nein. Er bleibt. Er hilft.
Das ist Liebe.
Vielleicht nicht die rosarote, romantische Hollywood-Liebe (ein Rosenverkäufer war weit und breit nicht zu sehen…), aber eine praktische, erbarmende, hilfsbereite Liebe. Nächstenliebe.
Natürlich, Liebe ist mehr als nur Taktgefühl.
Aber sie schließt das Gespür dafür mit ein, dass ich die Schwäche meiner Mitmenschen nicht ausnutze, um mich auf ihre Kosten darüber lustig zu machen.
Ich blamiere sie nicht, weil sie übergewichtig sind, sich keinen teuren Urlaub leisten können oder in aller Öffentlichkeit mit Alkoholproblemen kämpfen.
Das kann ich tun, wenn ich mich überlegen und mächtig fühlen will.
Mit Liebe hat das nichts zu tun.
Die Liebe zeigt nicht mit dem Finger auf die Wunde.
Die Liebe sucht ein Pflaster, einen Unterstand, eine Zudecke oder einen Trost.
Denn nur unter solch einem Schutzmantel können Wunden heilen. Dieser mir fremde Mann auf der Straße schien etwas davon zu wissen.
Und Jesus, der Meister allen Taktgefühls, wusste es selbstverständlich auch:
Vor allem lasst nicht nach, einander zu lieben. Denn Liebe sieht über Fehler hinweg.
1. Petrus 4,8 Hoffnung für alle
Da sagte Jesus: „Ich verurteile Dich auch nicht. Du kannst gehen; aber tu diese Sünde nicht mehr.“
Johannes 11,8 Gute Nachricht
Niemand von Euch würde sich so verhalten wie Herbert damals, da bin ich mir ganz sicher.
Aber vielleicht können wir trotzdem noch ein Stückchen weiter wachsen in der Liebe?
Und wenn wir das möchten, entdecken wir wahrscheinlich auch ab und zu Menschen in unserem Umfeld, die gerade einen Unterstand suchen, einen sicheren Ort, an dem sie sich öffnen können und keine Angst haben müssen, hinterher beschämt zu sein.
Wohl denen, die solch einen Unterstand finden.
Und wohl denen, die es für andere sind.
lybucci meint
Vielen Dank Barbara für deinen klaren Text. Er hat mich berührt und zum Nachdenken geführt. Grüsse Lydia
5heringe meint
Liebe Lydia, danke Dir vielmals, dass Du mir Deine Rückmeldung gibst. Ich freue mich darüber und wünsche Dir viel Segen! Barbara