Darf ich euch ein bisschen von meinen letzten zwei Wochen erzählen?
Vorletzter Dienstag:
Ich hole mittags meine Tochter von der Schule und meinen Sohn vom Kindergarten ab. Als wir zuhause ankommen, stehen ein Feuerwehrauto, ein Krankenwagen und ein Notarztauto vor unserem Haus. Ich renne zur Eingangstür meiner Eltern, die bei uns im Haus wohnen. Ja, es ist meine Mutter. Man bringt sie ins Krankenhaus – auf die Intensivstation.
In letzter Zeit kam sie schnell aus der Puste, dachte sich nichts dabei, war sich sicher, es würde wieder besser werden…. Typisch, Mama.
Sie ist eine starke Frau, hat ein offenes Haus und ein offenes Ohr für jeden – und sie ist erst 61 Jahre alt!
Sechs Stunden später erfahren wir, dass ihr Herz viel zu schwach ist, sich dadurch Wasser in der Lunge angesammelt hat, wodurch ihr das Atmen unmöglich wurde. Zusätzlich hat sie eine Lungenentzündung und einen weiteren Infekt. Man legt sie ins künstliche Koma. Ausgang: ungewiss.
Anfang letzter Woche:
Die ersten Versuche, sie wach zu kriegen, scheitern. Die Atmung macht nicht mit. Sie hat keinen eigenständigen Atemreflex. Würde man das Beatmungsgerät abstellen, würde sie einfach nicht mehr atmen. Am Mittwoch dann ein Hoffnungsschimmer: die ersten selbstständigen Atemimpulse setzen ein. Nach 10 Tagen Tiefschlaf gelingt schließlich der Versuch, sie allmählich wach zu bekommen. Ich sehe sie. Sehe, wie sie sich quält. Jeder einzelne Atemzug scheint ein Kampf ums Überleben zu sein. Es sieht schmerzhaft aus. Sie reißt die Augen zwischendurch panisch auf, starrt auf einen Punkt, versucht zu sprechen, was aufgrund des Luftröhrenschnitts unmöglich ist, verzieht vor Schmerz ihr Gesicht, sinkt wieder zurück in einen unruhigen Schlaf.
Wäre sie eine mir unbekannte Frau, würde ich wahrscheinlich sagen: „Lasst sie doch einfach in Ruhe die Augen schießen und stellt die Geräte ab.“ Aber es ist meine Mama – meine starke Mama. Und ich kann mich nur dem Wunsch meines 4-Jährigen anschließen, der möchte, dass Oma wieder für uns alle Pfannkuchen backt.
Letzter Samstag:
Der Anblick meiner Mutter vom Vortag verfolgt mich. Zusätzlich erreicht uns die Nachricht, dass eine Cousine im Sterben liegt und vermutlich ihre letzten Tage verlebt. Vor etwa einem halben Jahr wurde bei ihr Krebs diagnostiziert. Sie ist nur ein Jahr älter als ich! Ich erinnere mich, wie wir als Kinder zusammen spielten, im Winter in einen zugefrorenen Bach eingebrochen sind und unsere Kleider dann heimlich auf der Heizung im Bad trockneten, damit die Erwachsenen nichts merkt en. Irgendwann haben sich unsere Wege mehr und mehr getrennt, doch ganz aus dem Blick haben wir uns nie verloren. Sollte sie tatsächlich jetzt gehen, geht sie definitiv zu früh.
Dazwischen mein 5-monatiges Baby, das meine ganze Fürsorge und Zuwendung braucht, die Wäsche, die gewaschen werden muss, der Teppich im Kinderzimmer, der dringend wieder gesaugt werden sollte und die beiden Älteren, die uns daran erinnern, dass wir versprochen hatten, ins Schwimmbad zu fahren, damit der Schwimmkurs nicht umsonst war… die Werbung im Briefkasten macht mir unmissverständlich klar, dass Weihnachten mit großen Schritten näher rückt und vorbereitet werden möchte. Zu dem Ganzen unsere seit Jahren belastende Lebenssituation, die zwar angesichts der Schicksalsschläge etwas verblasst, aber sich dennoch nicht in Luft auflöst und von uns einen klaren Kopf und Entscheidungskraft fordert.
Hallo, Leben? Ist das dein Ernst? Kannst du bitte mal anhalten! Ich komme nicht mehr mit.
Ich habe mehr Fragezeichen als Antworten. Zweifel scheinen überhand zu nehmen. Glaube erscheint wie ein Halm – wie ein Grashalm im Wind.
Und ich höre mich selbst, wie ich vor Jahren meinen Realschülern im Religionsunterricht erklärte: „Ein einziger Grashalm ist ein kleines Wunderwerk, das komplizierter konstruiert ist als ein VW Käfer. Da ist z.B. der komplexe Prozess der Photosynthese zur Umwandlung von Stickstoff in Sauerstoff. Dann ist da die Konstruktion dieses kleinen Halms: zum einen muss er die notwendige Elastizität aufweisen, um im Wind nicht zu brechen, zum anderen genügend Standfestigkeit besitzen, um sich nach einem Sturm wieder aufzurichten. Der Grashalms dient in der Architektur als Vorbild für die Konstruktion von Hochhäusern. (- ich zeige zur Verdeutlichung eine Skizze und schlussfolgere: -) Wenn ich also die zufällige Entstehung eines Grashalms für möglich halte, muss ich konsequenterweise auch glauben können, dass ein VW Käfer zufällig aus sich selbst heraus entstehen kann. Da ich das aber nicht glauben kann, muss ich folgerichtig glauben, dass es jemanden gibt, der den Grashalm konstruiert hat.
Solange es also einen einzigen Grashalm auf dieser Erde gibt, weiß ich: es gibt einen Gott!“
Grashalmglaube – ja, so kommt mir mein Glaube gerade vor. Und ich merke, es reicht nicht! Ich brauche nicht nur einen Gott, der irgendwo existiert. Ich fühle mich verloren im Universum. Und ich MÖCHTE mit jeder Faser meines Seins glauben, dass dieser Gott, dessen Existenz ich nicht bezweifle, hört, sieht, versteht, eingreift.
Zwei Tage später:
Meine Mama hat große Fortschritte gemacht. Sie atmet selbstständig, die Werte stabilisieren sich insgesamt, sie lächelt mit aller Kraft, wenn sie uns sieht, nickt schwach, wenn wir Fragen stellen, versucht zu kommunizieren.
Ich besuche meine Cousine, vielleicht zum letzten Mal. Seit Wochen liegt sie auf dem Bauch, die einzige schmerzerträgliche Position. Ihr Körper sieht krank aus, ihre Seele ist gesund. Sie lacht, erzählt viel, macht Späße und strahlt einen Frieden aus, den ihr nur einer geben kann – Jesus! Sie kommt mir nicht vor wie jemand, der seine letzten Tage verlebt. Sie ist voller Hoffnung, voller Glauben und voller Liebe. Trotz ihrer ausweglosen Situation hofft sie auf Heilung, und gleichzeitig weiß sie, dass sie spätestens im Himmel ganz heil sein wird. Wir verabschieden uns und hoffen, dass wir uns wiedersehen werden, und gleichzeitig wissen wir, wenn nicht mehr hier, dann eines Tages bei Gott.
Ich komme nach Hause.
Mein Blick schweift aus dem Fenster in den Garten. Und obwohl unser Rasen dank der Hitze des Sommers einige kahle Stellen aufweist, sind immer noch so viele Grashalme da, dass ich sie gar nicht zählen kann.
Und auch wenn ich es nicht immer fühle, weiß ich doch ganz sicher:
Dieser Gott, dessen Existenz ich nicht bezweifle, er hört, er sieht, er versteht. MICH.

Danke für diesen ehrlichen Rückblick deiner letzten zwei Wochen. Harte zwei Wochen und doch ist dein Grashalm-Glaube so unendlich ermutigend. Danke dafür! Ich wünsche dir und deiner Familie viel Kraft und Ausdauer, um auszuhalten bis der Alltag wieder ruhigere, erholsamere Tage schenkt. Liebe Grüße, Kim
Dankeschön!
Danke für deinen Einblick und das Bild mit dem Grashalm, sehr eindrücklich!!
Gottes Segen und alles Gute für deine Mutter und euch als Familie!
Liebe Grüße, Nicole