Traditionellerweise wird im christlichen Festkreis am 1. Sonntag im Oktober Erntedankfest gefeiert.
Dankbarkeit. Ein Wort, das leicht über die Lippen kommt.
Dankbarkeit. Eine große Herausforderung.
Ich hatte schon einige Male hier geschrieben, dass ich Russlanddeutsche bin. Im März 1988 durften meine Eltern mit zwei Koffern und drei Kindern aus Kasachstan nach Deutschland auswandern, in das Land ihrer Vorfahren. Im September desselben Jahres wurde ich eingeschult. Eine Schulgeschichte aus meinem 1. Schuljahr möchte ich mit euch teilen:
Meine Banknachbarin bot mir ihre Spitzdose an, um meinen Bleistift zu spitzen. Ich weiß bis heute nicht genau, warum sie das tat, denn ich hatte sie nicht darum gebeten, da ich selber einen einfachen Anspitzer besaß. Ich vermute allerdings rückblickend, dass ihre Spitzdose schon angeknackst war, und sie mir diese deshalb bewusst unterjubelte. Denn sobald ich damit begann, meinen Bleistift zu spitzen, fiel der Anspitzer vom Deckel der Dose ab, und ich galt als der Schadensverursacher. Meine Mitschülerin beschuldigte mich, ihre Spitzdose kaputt gemacht zu haben, und sagte, ich müsse ihr eine Neue kaufen. Mir war das sehr unangenehm und ich musste es zu Hause meiner Mutter erzählen. Sie ging mit mir am Nachmittag in einen teuren Schreibwarenladen und kaufte für meine Mitschülerin eine Spitzdose für 5,- D-Mark. Ich war stolz und neidisch zugleich. Stolz, weil ich diese Spitzdose so schön fand (ich glaube, es waren Pferde drauf), und mich darauf freute, diese meiner Banknachbarin am nächsten Tag zu überreichen, und neidisch, weil meine Eltern mir damals so eine teure Spitzdose nicht hätten kaufen können. Ich besaß nur einen ganz einfachen Anspitzer.
Der nächste Tag kam, und ich überreichte meiner Mitschülerin voller Vorfreude die schöne Spitzdose. Sie reagierte jedoch alles andere als begeistert darauf. Ihre vorherige Dose sei viel schöner gewesen, aber sie müsse sich halt jetzt mit dieser Spitzdose abfinden. Ich war sehr peinlich berührt. Einerseits. Andererseits weiß ich, dass ich damals als Erstklässlerin sinngemäß dachte: sie ist zwar in Deutschland geboren, aber ich möchte nicht mit ihr tauschen.
Warum konnte sie sich über so eine tolle Spitzdose nicht freuen?
Da, wo ich herkam, wusste man nicht einmal, dass es solche Spitzdosen gab.
Sicher ist es einfach, mit dem Finger auf dieses Kind von damals zu zeigen.
Aber wie war das?
Zeigen dann nicht vier Finger auf mich zurück?
Leider ja.
Und ich frage mich: Wo stehe ich heute? Erst letzte Woche war ich in einem Bastelladen auf der Suche nach Acrylfarben. Es gab dort unzählige Farben, aber genau der eine Farbton, den ich mir vorgestellt hatte, war nicht vorrätig. Das hat mich geärgert. Ja, ich habe oft genaue Vorstellungen, auch über Nebensächlichkeiten. Und ich möchte, dass sie so erfüllt werden.
Bestimmt Dankbarkeit mein Leben?
Auch Dankbarkeit über Dinge, die nicht genau nach meinen Vorstellungen laufen? Auch Dankbarkeit über Un-Perfektes? Und ich merke, da ist noch Luft nach oben. Viiiieeel Luft nach oben.
Vor einigen Jahren waren mein Mann und ich am Gardasee im Urlaub. Eines Abends saßen wir mit leckeren Drinks auf der Hotelterrasse. Es war ein sehr angenehmer Sommerabend mit einer wunderschönen Aussicht auf den See, in dem sich die vielen Lichter der umliegenden Städte und Dörfer spiegelten. Plötzlich kam ein Mann zwei Tische weiter beladen mit Eisbechern und sämtlichen Getränken fluchend und schimpfend zu seiner Familie an den Tisch. Lautstark beschwerte er sich darüber, dass es den einen besonderen Wein, den er trinken wollte, nicht mehr gab, obwohl er auf der Weinkarte angegeben war. Dann entschied er sich für ein Bier, aber es gab kein Bierglas, aber wie hätte er Bier ohne Bierglas trinken sollen? Und so ging das weiter. Eine geschlagene halbe Stunde verbrachte er damit, seine eigene Stimmung und die seiner Familie zu „verpesten“, und das, obwohl er umgeben war von Schönheit, obwohl er sich einen Urlaub in einem Sternehotel leisten konnte, und obwohl vor jedem Familienmitglied mindestens ein Getränke und ein Eisbecher standen. Ist das nicht arm?
Paradoxerweise sind gerade wir, die wir in einem Wohlstandsland leben dürfen, in Sachen Dankbarkeit herausgefordert. Während es für Menschen in anderen Teilen der Welt ein Grund zum Freudentanz ist, wenn fließendes Wasser aus der Leitung kommt, ist das für mich so selbstverständlich, dass ich nicht einmal auf den Gedanken komme, dafür dankbar zu sein. Und ganz ehrlich: selbst, wenn ich so tue, als ob ich dafür dankbar wäre, wäre das eher eine Art theoretische Dankbarkeit („Eigentlich muss ich dafür dankbar sein, denn andere Leute haben das nicht.“). Aber praktisch bin ich noch nie damit konfrontiert worden, auf fließendes Wasser verzichten zu müssen. Ich habe gar keine Ahnung wie es ist, diesen Komfort nicht zu haben. Deshalb fehlt mir da auch aufrichtige, herzliche Dankbarkeit.
Dieses Jahr habe ich zum ersten Mal zu Erntedank einen „Dank-Altar“ bei uns zu Hause gestaltet. Wofür sind wir als Familie dankbar?
Ich gestehe: Ich war beschämt, wie schnell ich am Ende meiner Dankbarkeit angelangt war. Und ich dachte an meine Mitschülerin von damals…. und spontan betete ich: „Oh Lord, have mercy on me.“
Ja, ich brauche Gnade, um wahrhaftig und aufrichtig dankbar zu sein.
Ja, ich brauche Gnade, um mich für Dankbarkeit zu entscheiden – immer wieder und in allen Dingen.
Tina meint
Vielen Dank für Deinen Blickwinkel.
Ich muss sagen, dass Du es so gut gespiegelt hast wie es oft aussieht.
„Hedonismus“ heißt das. Ein Gewöhnungseffekt. Haben wir etwas, was wir uns gewünscht haben und dann bekommen, dann wird es“normal“. Und man braucht Mehr, Mehr, GRößer, Weiter oder Höher.
Ich glaube man muss BEWUSSTER Leben, um es so sehen können wie Du es erkannt hast.
Gott die Ehre dafür.
Liebe GRüße,
Tina
luisaseider meint
„Bewusster leben“ – das ist ein gutes Stichwort; aktuell etwas, worin ich mich übe. Und ich wünschte, dass manche Erkenntnisse schneller vom Kopf ins Herz (und ins Leben) rutschen würden …….