Die letzte Nacht war eine dieser Nächte.
Eine dieser Nächte, bei denen du dich am nächsten Morgen fragst, ob du nun verzweifelt sein sollst, weil sie schon vorüber ist und doch jede Faser deines Körpers nach Schlaf brüllt oder dankbar und froh, dass sie endlich ein Ende gefunden hat.
Um 22.45 Uhr schlief ich beim Lesen über meinem Buch ein. Um 23.00Uhr löschte der Gatte sein Licht. Um 23.01 Uhr lag ich hellwach in meinem Bett. Zuviel war in den letzten Tagen passiert, Zuviel bewegte mein Gemüt. Um 23.30 Uhr öffnete sich die Schlafzimmertüre zum ersten Mal und ein schlaftrunkener Zweitklässler in Flanell suchte Zuflucht an meiner Seite. Auch in seinem Gemüt musste mehr hin und her bewegt werden, als am Tag zu schaffen war. 00.20 Uhr öffnete sich die Türe erneut und ein kleiner Bruder rückte nach. Meine Decke reichte nicht mehr ganz aus. Gerangel um Neupositionierung. 1.14 Uhr hatte ich die Füße meines Zwillingsbuben im Gesicht. 1.45 Uhr bekam er Durst (wer macht auch Pizza zum Abendessen, liebe Güte!). 2.32 Uhr bemerkte mein kleines Mädchen ihre plötzliche Vereinsamung im Kinderzimmer. Wegen Platzmangels legte sie sich quer über meinen Kopf. Dann auf meinen Bauch. Ihr Zwillingsbruder befand den nun noch akuteren Deckenmangel als „ total unfair“. Ich versuchte ohne Decke zu schlafen. 3.12 Uhr bekam mein Mädchen Durst (Pizza zum Abendessen?!). 3.45 musste der Gatte die Toilette aufsuchen. Gerangel um Neupositionierung. Ein Kinderärmchen umschlang meinen Hals, ein spitzes Knabenknie bohrte sich in meinen Rücken, der Gatte schnarchte ungerührt, mein Mädchen lag nun quer über meinen Beinen. Um 4.20Uhr musste ich die Toilette aufsuchen („Mama, wo bist du?!). 6.10Uhr Weckerklingeln und ein empörtes „Weißt du Mama, ich wollte doch noch träumen!“ Während ich mir den Schlaf aus den verquollenen Augen rieb, dachte ich kurz darüber nach, ob am harschen Urteil unserer Kinderärztin doch etwas Wahres dran sei: Die Kinder gehören in ihr eigenes Bett, sie sind alt genug.
Ich hatte mich vor der letzten Woche sehr gefürchtet, sie hatte es wahrlich in sich.
Bei gleich mehreren Terminen sollten meine Kinder bemessen, gewogen und beurteilt werden aus ganz unterschiedlichen Gründen. Bei solchen Terminen bin ich wirklich ganz schlecht. Die Löwenmutter in mir sträubt sich vehement gegen subjektive Beurteilungen aller Art (und nur das können sie schließlich sein). Das vermeintlich harmloseste war dabei noch die U- Untersuchung meines Zwillingsmädchens. Unsere Ärztin steht mir sehr skeptisch gegenüber, da unsere Kinder tatsächlich nie nennenswert krank sind und sie mir das nicht glauben mag. Wir kamen und sie maß, wog und urteilte munter drauf los.
Fazit: ein gesundes Kind, das aber hinter dem von ihm zu erwartenden Leistungsspektrum zurückbleibt (beim Ausschneiden des sechszackigen Sterns hatte sich die knapp Vierjährige etwas viel Zeit gelassen und bei den Farben gab es Unsicherheiten). Außerdem, liebes Kind, schläfst du ab jetzt bitte in deinem Bett, du bist schließlich schon groß und nachts solltest du keine Windel mehr tragen. Bam, das Urteil saß. Meinem Mädchen war es egal, sie hüpfte frohen Mutes auf einem Bein die Tür hinaus.
Mir nicht. In mir stieg die Wut. Wie konnte sie so urteilen?
Der nächste Termin lauerte und damit auch das nächste Urteil.
Das Empfehlungsgespräch mit der Lehrerin unserer Viertklässlerin. Wenn du je eine Viertklässlerin zu Hause hattest, dann weißt du vielleicht, welche Spannung sich da aufbauen kann und wieviel davon scheinbar abhängt. Die Lehrerin ist keine Frau der warmen Worte und hält sich mit ihren Urteilen wahrlich nicht zurück. In den letzten Monaten hatte sie sich vor meinem geistigen Auge zu einem unberechenbaren Ungeheuer verwandelt. Wie sollte diese Frau, die vom Typus das genaue Gegenteil meines Kindes ist, ein faires Urteil fällen?
Während des Gespräches saßen der Gatte und ich sprachlos auf unseren Stühlen. Unsere verängstigte, kleine Tochter neben dem riesigen Drachen…ha Pustekuchen! Eine selbstbewusste Neunjährige, die in den letzten Jahren ihren ganz eigenen Weg mit dieser Frau gefunden hatte. Eine Lehrerin, die ihre Bewertungen sachlich und differenziert darstellte und die Entwicklungen der letzten Monate würdigte. Sie sprachen ausschließlich miteinander, wir sahen nur zu. Und selbstverständlich empfahl sie unserer Tochter die Schule, die sie sich ausgesucht hatte. Verdattert gingen wir mit unserem tanzenden Kind nach Hause.
Zwei Tage später waren wir wieder da. Anderes Kind, andere Lehrerin. Auch vor diesem Gespräch hatte ich Sorge.
So viele Altlasten trägt dieses Kind, so viel Mühe gibt er sich, aber würde ihn die zu erwartende Kritik nicht furchtbar hart treffen? Mündliche Mitarbeit war doch wahrscheinlich gar nicht zu erwarten. Leise und liebevoll sprach die Lehrerin mit unserem schweigsamen Sohn, Punkt für Punkt. Und wir erfuhren von einem vorbildlichen Schulkind, einem Mathe-Ass, das sich immer meldet, immer die richtige Antwort weiß und sich traut, vor allen zu sprechen. Ich hatte ihn unterschätzt und zwar gründlich.
Am Abend sagte ich kopfschüttelnd zum Gatten:“ Was habe ich mich vor all diesen Urteilen gefürchtet?! Soviel Sorge hatte ich, dass sie unsere Kinder nicht richtig wahrnehmen. Und dabei habe ich ein vorschnelles Urteil nach dem anderen gefällt. Über diese Lehrerinnen, über unseren Sohn. Nur bei der Kinderärztin, da lag ich richtig.“
Das Urteil der Ärztin ist mir egal. Natürlich schlafen unsere Kinder weiterhin bei uns, wenn sie das Bedürfnis nach unserer Nähe spüren. Schnell genug wird es aufhören und nur wenige Nächte sind so katastrophal, wie die letzte.
Aber hüten sollten wir uns, besonders vor den eigenen Urteilen, denn sie sind so schnell gefällt und so selten richtig.
Und was wäre gewesen, wenn die Urteile der anderen nicht so positiv ausgefallen wären? Wir hätten andere Wege gefunden, um unsere Kinder zu unterstützen, ganz sicher. Weil wir unsere Kinder um ihrer selbst willen lieben, unabhängig von allen Umständen und unabhängig von Leistung.
Ich bin Mensch, und nicht Gott.
Nie sehe ich die ganze Wahrheit über einen Menschen, selbst, wenn er mein eigen Fleisch und Blut ist, nie sehe die ganze Geschichte in all ihren Facetten, das darf ich nie vergessen.
Nur Gott allein kennt unser Wesen ganz und auf ihn will ich vertrauen.
Dass er uns zur rechten Zeit auch die richtigen Wege zeigt.
Allen anderen Urteilen gegenüber darfst du ruhig gelassen und ein wenig skeptisch gegenüber stehen.
Denen der anderen und vor allem deinen eigenen.
Zwischen Himmel und Erde meint
Da musste ich schmunzeln bei deiner Beschreibung des nächtlichen Besuchs… Herrlich deine Beschreibung… Ja, irgendwann kommen sie nicht mehr. Bei uns ist es soweit. Ich geniesse zwar die ungestörten Nächte, vermisse aber die kleinen Ärmchen manchmal schon ein bisschen…
Wie recht du hast mit den Urteilen. Und wie wertvoll, wenn die Kinder von Beginn an lernen, nicht von Urteilen abhängig zu sein. Das können sie nur von uns lernen…