Neulich habe ich mal wieder unseren Süßigkeiten-Schrank sauber gemacht, und dabei wie immer viel zu viel weggeschmissen: ausgetrocknete Kekse, unansehnliche Oster-Schokolade vom letzten (!) Jahr, nicht-mehr-knusprige Chips und steinharte Gummibärchen…
Meine Kinder lieben Gummibärchen, deshalb waren es diesmal auch nur die Wenigen, die aus dem Tütchen gefallen sind. Eigentlich kaufen wir Süßigkeiten mit Bedacht, aber bekanntlich sind sie ja ein beliebtes Mitbringsel. Dann hat man/frau doch mal Lust auf die eine oder andere Nicht-Lieblings-Süßigkeit, öffnet die Verpackung, nascht ein wenig und überlässt sie den Untiefen des Süßigkeiten-Schranks.
Jedes Mal, wenn ich Süßigkeiten wegschmeiße, erinnere ich mich an eine ganz andere Zeit in meinem Leben und ich erinnere mich an zwei ganz besondere Gummibärchen… Aber bevor ich dazu komme, muss ich ein wenig ausholen:
Ich bin Russlanddeutsche. Als Kind deutschstämmiger Eltern bin ich in Kasachstan geboren (vergleichbar mit Kindern türkisch-stämmiger Eltern hier in Deutschland). Als ich 7 Jahre alt war, bekamen wir die Erlaubnis, in das Herkunftsland unserer Vorfahren auszuwandern – in das „gelobte“ Deutschland! Ich möchte euch ein wenig in das Leben in der Sowjetunion Anfang der 80-er Jahre entführen, mit den Augen eines Kindes…
Ich erinnere mich daran, dass ich einmal mit meiner Tante in die einzige Eisdiele der Stadt ging, und es TATSÄCHLICH Eis gab!!! Was für ein Fest! Das war nämlich wirklich selten. Meistens gab es da nur Tee und Pfannkuchen. Oder Kaugummis am Kiosk – auch eine Seltenheit! Einmal haben wir Kinder einen riesigen Klumpen schwarzen Teer in der Nähe einer Baustelle auf der Straße gefunden – das war wie Weihnachten: Ein Wochenvorrat an „Kaugummi“ für alle Kinder aus der ganzen Nachbarschaft!
Süßigkeiten gehörten nicht zum Alltag. Kekse, Karamellbonbons oder Schokoladentafeln konnte man zwar kaufen, aber für solche Genussartikel gab man selten Geld aus. Besondere Süßigkeiten wie Pralinen bekam man ausschließlich über Beziehungen.
Im Gemüseladen gab es Kartoffeln, Zwiebel und Weißkohl, manchmal Karotten oder Paprika. Somit war dieser Laden sehr übersichtlich (und stinkig, weil das Gemüse, das ganz unten lag, schon faulte). Wir hatten ein eigenes Kartoffelfeld und in Großeltern’s Gemüsegarten oder auf dem Wochenmarkt gab es mehr Auswahl. Lebensmittel wie z.B. Brot, Reis, Nudeln, Zucker, Grieß, Hirse, eingelegtes Gemüse oder grobkörniges Salz konnte man problemlos kaufen.
Täglich gab es Milch, Schmand und Quark oder Fleisch und Wurst zu kaufen, aber nur zu bestimmten Zeiten; Fleisch z.B. ab 17.00 Uhr. Schon in den frühen Morgenstunden bildete sich die Warteschlange, um zur besagten Uhrzeit eine pro Person begrenzte Menge kaufen zu können. Hatte man keine Möglichkeit, sich stundenlang in eine Warteschlange zu stellen, hatte man auch keine Aussicht auf die Ware.
Es hatte aber auch sein Gutes: Man musste nie darüber nachdenken, welches Fleisch oder welche Wurst man kaufen möchte (oder in welcher Menge). Es gab nur eine Sorte, und man war froh, wenn man überhaupt etwas ergattert hatte. Essen sollte schmecken und diente der Nahrungsaufnahme, eine Genusskultur wie hier kannte man nicht. Was war meine Mutter überfordert, als sie das erste Mal in Deutschland vor dem Fleischregal stand…
Waren wie beispielsweise Butter, feinkörniges Salz, Mehl, Handtücher, Kinderwägen usw. gab es quasi überraschend. Sah man irgendwo eine Menschenschlange vor einem Laden, stellte man sich einfach aus Prinzip an. Manchmal erfuhr man erst, als man an der Reihe war, was es gab, und kaufte alles, was man bekommen konnte. Wo eine Warteschlange war, da war auch viel Geschrei. Jeder befürchtete, leer ausgehen zu müssen, da die Ware begrenzt war. So schubste man, schimpfte und schrie, beschuldigte andere, sich reingedrängelt zu haben. Wurde die Ware knapp, wurden Forderungen laut, die Menge pro Person zu reduzieren (z.B. nur noch 400g Butter statt 500g), damit es für mehr Kunden reichte. Wir hatten davon gehört, dass es in Deutschland Bananen und Ananas geben sollte. Sowohl was das Aussehen als auch den Geschmack betraf – davon konnten wir nur träumen!
…. und dann gab es da diese zwei Gummibärchen…!!!
Meine Oma war Näherin und nähte oft Kleider für Bekannte. Einmal kam eine ebenfalls deutschstämmige Familie zum Probe-Anziehen und brachte meinem jüngeren Bruder und mir jeweils zwei Gummibärchen aus Deutschland mit! Das war in der Tat wie Weihnachten!!!
Die meisten deutschstämmigen Familien hatten Verwandte in Deutschland, von denen man gelegentlich Päckchen bekam. In den seltensten Fällen kamen diese auch vollständig an. Meistens waren sie schon geöffnet worden, und nachdem sich die Beamten „bedient“ hatten, wurden die Überreste zugestellt. Deshalb war es umso erstaunlicher, dass die Gummibärchen ihren Weg zur besagten Familie gefunden hatten. Und was für eine Freude, dass sie mit uns Kindern teilten!!! Mein Bruder und ich kamen nicht einmal auf die Idee, diese Kostbarkeiten zu KAUEN. Wir haben sie eine Weile gelutscht und anschließend in den Kühlschrank gelegt, um am nächsten Tag weiter zu lutschen – so hatten wir einfach mehr davon! (Wir lebten schon eine ganze Weile in Deutschland bis ich kapierte, dass man Gummibärchen kaut… Und übrigens, so leckere Gummibärchen wie damals habe ich nie wieder gegessen 😉)
Ich erinnere mich auch an Päckchen von unseren Verwandten aus Deutschland. Aber meistens enthielten sie nur noch den in deutscher Sprache verfassten Brief und „Mon Chérie“. Den Rest hatten schon die Beamten entwendet. Schokolade mit Alkohol mochte selbst in dem „Wodka-verseuchten“ Land niemand. Wir auch nicht. Aber die rosa-glänzenden Einwickelpapierchen – die waren der Kracher! Süßigkeiten waren selten und wir Mädchen sammelten Bonbonpapiere so wie man hier z.B. Sticker sammelt. Für glänzende Bonbonpapiere von deutschen Bonbons hätte ich jedes andere Bonbonpapier von den Kindern aus der Nachbarschaft bekommen, das ich haben wollte. Was für ein Schatz! Aber als Kind habe ich mich immer gefragt, wie kann man in so wunderschönes Bonbonpapier so ekelige Schokolade verpacken! („Mon Chérie“ mag ich bis heute nicht.)
… Und einmal im Jahr gab es Orangen…
… in unserem Obst- und Gemüseladen. Zwei Kilo pro Person, wenn man denn Glück hatte, und noch welche übrig waren bis man an die Reihe kam. Leider musste sich meine Mama nach einer schweren Operation (ohne Narkose!) erholen und war nicht in der Lage, die Wohnung zu verlassen. Also schickte sie meinen Bruder und mich in den Laden und beobachtete uns vom Fenster aus. Als wir nach mehreren Stunden Schlange stehen und hoffen, dass noch was von der exklusiven Köstlichkeit für uns übrig bliebe, an der Reihe waren, bekamen wir statt Orangen eine Standpauke von der Verkäuferin: Was fiele denn unseren Eltern ein, Kinder zu schicken, Orangen zu kaufen? Seit wann gäbe es denn Orangen für Kinder?… – Völlig eingeschüchtert und den Tränen nahe wollten wir uns schon auf den Heimweg machen, doch der Kunde hinter uns nahm uns in Schutz. Er hätte noch nie Kinder erlebt, die stundenlang so diszipliniert in einer Warteschlange stünden (Natürlich taten wir das; das war unsere einzige Chance auf Orangen!). Der Mann bestand darauf, dass jeder von uns (!) zwei Kilo Orangen bekam. Widerwillig gehorchte die Verkäuferin. Mit Tränen in den Augen über die unsanfte Behandlung, aber auch stolz vor Glück kamen wir zu Hause an. Wir teilten uns die Früchte gut ein, um einfach länger Freude an der seltenen Köstlichkeit zu haben.
Als wir in das „gelobte Land“ Deutschland kamen, nahmen uns die Eltern die ersten Monate nicht mit zum Einkaufen, weil uns die Übermenge an Produkten völlig erschlagen hätte. Einmal kam meine Mama vom Einkauf mit einem Netz Orangen. Es enthielt fünf Orangen!
Als wir damit begannen, die erste Orange unter uns aufzuteilen, spielte sich in etwa folgender Dialog ab: Mama: „Ihr braucht die Orange nicht aufzuteilen. Jeder darf eine ganz alleine essen.“ Wir: „Aber dann haben wir doch morgen keine Orangen mehr!“ Mama: „Ich kann morgen wieder Orangen kaufen.“ Wir: „Was??? Wie kann das sein? Gibt es in Deutschland jeden Tag ein Netz Orangen pro Person?“ Mama: „Es gibt sogar jetzt in diesem Moment Orangen, und jeder kann sie kaufen, der es möchte.“ Wir (entsetzt): „Wieso hast du denn dann nur ein einziges Netz gekauft? Morgen gibt es bestimmt keine Orangen mehr, wenn erst die anderen Leute erfahren, dass sie so viele Orangen kaufen können wie sie wollen!“
Wenn ich heute darüber nachdenke, muss ich schmunzeln. Einerseits. Andererseits fällt mir diese Begebenheit aus meinem Leben immer mal wieder ein, wenn ich beim Einkaufen achtlos an den Orangen vorbeigehe (heute esse ich nur noch die mit der dicken Schale).
Ja, es sind inzwischen fast 30 Jahre vergangen.
Zeit genug, um sich an das Gute zu gewöhnen und über das Schlechte zu meckern. Ich bin froh, dass diese Geschichten zu meiner Vergangenheit gehören. Wenn ich mich darauf einlasse, helfen sie mir dabei, dankbar zu sein.
Und sie stellen mich vor eine große Herausforderung: Wie kann ich meinen Kindern vermitteln, wie gut es ihnen geht? Für sie ist das alles Standard: ein Trampolin im Garten, die Auswahl zwischen Wurst und Lieblingswurst, sonntags zum Essen ausgehen… – ja, auch für mich ist es schon längst Standard. Und es tut gut, den eigenen Kindern ein solches Leben ermöglichen zu können. Aber wie kann ich sie sensibilisieren für die guten Dinge des Lebens und für die Not der anderen? Wenn sie mal älter sind, haben mein Mann und ich uns jetzt schon vorgenommen, ab und zu den gewohnten Familienurlaub durch einen „Aus-Flug“ nach Kasachstan oder in ein anderes vergleichbares Land zu ersetzen, um dort das Leben mit den Einheimischen zu teilen oder eine Hilfsorganisation vor Ort praktisch zu unterstützen. Bis dahin möchte ich ihnen Dankbarkeit und Mitmenschlichkeit vorleben – mit Gottes Hilfe!
Ach ja, mein Zweijähriger steht wohl gerade am Süßigkeiten-Schrank. Zumindest höre ich ihn rufen: „Mama, Bärchen!“ – Ich glaube, ich gebe ihm mal zwei. Und bei der Gelegenheit stecke mir auch gleich zwei in den Mund! Und dann werden wir beide kurz innehalten und Gott für Gummibärchen danken. Und dann … hmmm … lutschen oder kauen???
Ich glaube, ich mache ein Experiment: Ich lutsche, und während ich das tue, danke ich Gott für all das Gute, das mich umgibt! Wer macht mit?
katjaheigl meint
Liebe Luisa, vielen dank, dass du diese Erinnerungen und Gedanken geteilt hast.
Claudia meint
Liebe luisa…es sind gerade ein paar tränen gekullert. Du schreibst erfrischend spontan aber auch sehr strukturiert 🙂 ja so bist du….danke für deine Freundschaft. ….Claudia
Tina meint
Bin über andere Blogs auf Deinen Blog gestoßen.
Und ich sitze und heule. Weil es die Geschichte meiner Familie ist, die Du erzählst.
Ich bin auch Russlanddeutsche. Aber in zweiter Generation.
Meine Eltern kamen schon 1975 hier hin und waren dankbar dem kommunismus zu entkommen, der viele Opfer, Nöte und Entbehrungen gefordert hatte, seit sie 1945 mit ihren Stammfamilien deportiert wurden und die Väter in Gefängnis oder Arbeitslager mussten.
Es sind Geschichten, die mich bis heute berühren, obwohl ich sie nie erlebt habe.
Aber es ist trotzdem meine Geschichte, weil sie die Geschichte meiner Eltern ist und weil meine Erziehung und Glauben auch dementsprechend anders war.
Meine Eltern sind über 70 heute. Aber ich freue mich, wenn sie auch meinen Kindern noch erzählen, was Hunger, Not und Leid bedeutet und ihnen somit aufzeigen, wie dankbar wir sein müssen und es eine Schande ist, dass wir täglich nörgeln.
Mit unserem Nörgeln klagen wir Gott an, der uns doch vor Kommunismus, Arbeitslagern, deportieren der Väter und Hunger bewahrt.
VIELEN DAnk für Deine Geschichte.
Herzliche Grüße von Tina
Luisa meint
Das ist natürlich noch mal ein ganz anderes Thema, das du hier anschneidest. Ich bin dort nicht mehr in die Schule gegangen, aber von meinen Cousinen und natürlich von meinen Eltern weiß ich, dass man ab der 1. Klasse der Lächerlichkeit preisgegeben wurde, wenn man Christ war. Das war äußerlich leicht zu erkennen, denn Kinder deren Eltern nicht in der kommunistischen (= atheistischen) Partei waren, trugen zu ihrer Schuluniform kein Halstuch. Meine Eltern haben beide sehr gute Schulabschlüsse, durften aber aufgrund ihrer deutschen Herkunft und ihres Glaubens an einen Schöpfer-Gott nicht studieren usw. In einem atheistischen Regime gibt es keine Toleranz!
Ich persönlich habe das alles nicht am eigenen Leib mitbekommen. Für mich ist meine Kindheit eigentlich „romantisch“. Ich weiß noch, als ich hier in die 1. Klasse gekommen bin, war ich sehr froh, dass ich nicht hier in Deutschland geboren bin. Ich hatte einfach das Gefühl, ich habe mehr „Lebenserfahrung“. Dazu könnte ich auch noch eine Geschichte erzählen…. vielleicht ein andermal